Gegenstand des Beitrages ist Christian Enzensbergers Roman Nicht Eins und Doch. Geschichte der Natur, 2013 bei Die Andere Bibliothek erschienen. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Tatsache, dass die Beziehung des Menschen zur Natur – spätestens seit der Romantik ein zentraler literarischer Topos – angesichts der dramatischen technologischen und ökologischen Umwälzungen des vergangenen Jahrhunderts unrettbar zerrüttet ist. Mit dem Ecocriticism hat sich seit den neunziger Jahren ein interdisziplinärer literaturwissenschaftlicher Ansatz etabliert, der die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Literatur untersucht. Er nimmt jedoch vor allem literarische Fiktionen – Science fiction und insbesondere dystopische Literatur – in den Blick, daher ist es ihm bisher kaum gelungen, auch nur die Frage zu stellen, welche genuin poetologischen Implikationen die Umweltzerstörung hat und wie sie sich in literarischen Sprachformen niederschlägt. Enzensbergers Roman gehört nämlich zu den besonderen Textsorten, in denen die Transformation der menschlichen Umwelt bzw. Natur in anorganische und leblose Materie nicht so sehr durch eine exzentrische und dystopische Handlung, sondern durch besondere semantische Mittel (Aphasie, Stottern, Verstummung und Zerstörung der Sprachstruktur, kryptische und hermetische Analogismus, Verwendung dialektaler Sprache) Gestalt annimmt. Es soll gezeigt werden, wie diese Form der Literatur die geschichtlich-biologische Zeit des Menschen mit der „unmenschlichen“ geologischen und kosmologischen „Tiefenzeit“ der Natur ins Verhältnis setzt und so die schwindelerregende ontologische Dissonanz zwischen Natur und Mensch, Geologie und Biologie im Medium der Sprache greifbar werden lässt. Die Hermetik Enzensbergers Roman soll daher nicht so sehr als Residuum ökologisch-qualitativer Werte in einer Welt der ökonomisch-quantitativen Vermessung erscheinen, sondern zunächst und vor allem als Sprachspiel, das sich den stereotypen Sprachstrukturen (der Naturwissenschaften, der Technik, aber auch der Geschichtsschreibung und der Philosophie) bedient, sie infrage stellt und erneuert. Dabei transformiert er die Sprache zu einem Medium, das den Menschen mit sich selbst und mit der dramatischen Dissonanz zwischen seiner biologischen Zeit und der geologischen Zeit der Natur konfrontiert. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts findet sich Lebloses vor allem in Gestalt eines Gestorben- oder Versteinert-Seins, eines ”Ewigwerdens” des Organischen im Unterschied zum Menschen als lebendigem und wahrnehmendem Wesen. Diese Auffassung wird allmählich (und verstärkt seit Ende des Zweiten Weltkriegs) von einer Literatur überlagert, in der Tod bzw. Zerstörung, Verwesung und Versteinerung primär als Übergang, als Drift hin zum Anorganischen in Erscheinung tritt. Damit geht der Mensch selbst als Sediment in eine jetzt unmenschliche und tragische Geschichte ein. Gegen Ende des Jahrhunderts (paradigmatisch in Christian Enzensbergers Nicht Eins und Doch. Geschichte der Natur) liegt der literarichen Form die Vorstellung zugrunde, dass der Mensch in einer selbstgeschaffenen, post-humanen Landschaft lebt, in deren Zentrum ein ”organisches” Leben unmöglich ist, deren Horizont er aber (naturgemäß) nicht erreichen, geschweige denn überschreiten kann. Das Anorganische wird hier zum Symbol einer grundlegenden ontologischen Fremdheit der ausgebeuteten Natur, der sich eine jetzt stotternde, sich-suchende Sprache wieder zu nähern versucht. Dieser schwierige und komplexe Annäherungsversuch kann im Werk Christian Enzensbergers in einer totalen, ja wieder „romantischen“ Umkehrung der Rolle gipfeln: Die anorganische Welt spricht den „wandernden“ Menschen an und belehrt ihn wieder. Eine notwendige poetologische Überlegung des Beitrages wird die Bestimmung der spezifischen Zeitlichkeit Enzenbergers Roman sein. Die geologischen Zeitschichten - die der Gegenwart eine komplexe Stratigraphie übereinanderliegender Ebenen der Zeitlichkeit gegenüberstellt - scheinen in die Struktur und Sprache des Romans auf konstitutive Art und Weise einzudringen. Es stellt sich die Frage, wie die "Differenzbestimmung" zwischen Erfahrung und Erwartung nicht nur den Inhalt, sondern auch Grammatik und Syntax des Romans determiniert.

Die Sprache des Menschen und der Dialekt der leblosen Welt

Ulisse Doga'
2023-01-01

Abstract

Gegenstand des Beitrages ist Christian Enzensbergers Roman Nicht Eins und Doch. Geschichte der Natur, 2013 bei Die Andere Bibliothek erschienen. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Tatsache, dass die Beziehung des Menschen zur Natur – spätestens seit der Romantik ein zentraler literarischer Topos – angesichts der dramatischen technologischen und ökologischen Umwälzungen des vergangenen Jahrhunderts unrettbar zerrüttet ist. Mit dem Ecocriticism hat sich seit den neunziger Jahren ein interdisziplinärer literaturwissenschaftlicher Ansatz etabliert, der die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Literatur untersucht. Er nimmt jedoch vor allem literarische Fiktionen – Science fiction und insbesondere dystopische Literatur – in den Blick, daher ist es ihm bisher kaum gelungen, auch nur die Frage zu stellen, welche genuin poetologischen Implikationen die Umweltzerstörung hat und wie sie sich in literarischen Sprachformen niederschlägt. Enzensbergers Roman gehört nämlich zu den besonderen Textsorten, in denen die Transformation der menschlichen Umwelt bzw. Natur in anorganische und leblose Materie nicht so sehr durch eine exzentrische und dystopische Handlung, sondern durch besondere semantische Mittel (Aphasie, Stottern, Verstummung und Zerstörung der Sprachstruktur, kryptische und hermetische Analogismus, Verwendung dialektaler Sprache) Gestalt annimmt. Es soll gezeigt werden, wie diese Form der Literatur die geschichtlich-biologische Zeit des Menschen mit der „unmenschlichen“ geologischen und kosmologischen „Tiefenzeit“ der Natur ins Verhältnis setzt und so die schwindelerregende ontologische Dissonanz zwischen Natur und Mensch, Geologie und Biologie im Medium der Sprache greifbar werden lässt. Die Hermetik Enzensbergers Roman soll daher nicht so sehr als Residuum ökologisch-qualitativer Werte in einer Welt der ökonomisch-quantitativen Vermessung erscheinen, sondern zunächst und vor allem als Sprachspiel, das sich den stereotypen Sprachstrukturen (der Naturwissenschaften, der Technik, aber auch der Geschichtsschreibung und der Philosophie) bedient, sie infrage stellt und erneuert. Dabei transformiert er die Sprache zu einem Medium, das den Menschen mit sich selbst und mit der dramatischen Dissonanz zwischen seiner biologischen Zeit und der geologischen Zeit der Natur konfrontiert. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts findet sich Lebloses vor allem in Gestalt eines Gestorben- oder Versteinert-Seins, eines ”Ewigwerdens” des Organischen im Unterschied zum Menschen als lebendigem und wahrnehmendem Wesen. Diese Auffassung wird allmählich (und verstärkt seit Ende des Zweiten Weltkriegs) von einer Literatur überlagert, in der Tod bzw. Zerstörung, Verwesung und Versteinerung primär als Übergang, als Drift hin zum Anorganischen in Erscheinung tritt. Damit geht der Mensch selbst als Sediment in eine jetzt unmenschliche und tragische Geschichte ein. Gegen Ende des Jahrhunderts (paradigmatisch in Christian Enzensbergers Nicht Eins und Doch. Geschichte der Natur) liegt der literarichen Form die Vorstellung zugrunde, dass der Mensch in einer selbstgeschaffenen, post-humanen Landschaft lebt, in deren Zentrum ein ”organisches” Leben unmöglich ist, deren Horizont er aber (naturgemäß) nicht erreichen, geschweige denn überschreiten kann. Das Anorganische wird hier zum Symbol einer grundlegenden ontologischen Fremdheit der ausgebeuteten Natur, der sich eine jetzt stotternde, sich-suchende Sprache wieder zu nähern versucht. Dieser schwierige und komplexe Annäherungsversuch kann im Werk Christian Enzensbergers in einer totalen, ja wieder „romantischen“ Umkehrung der Rolle gipfeln: Die anorganische Welt spricht den „wandernden“ Menschen an und belehrt ihn wieder. Eine notwendige poetologische Überlegung des Beitrages wird die Bestimmung der spezifischen Zeitlichkeit Enzenbergers Roman sein. Die geologischen Zeitschichten - die der Gegenwart eine komplexe Stratigraphie übereinanderliegender Ebenen der Zeitlichkeit gegenüberstellt - scheinen in die Struktur und Sprache des Romans auf konstitutive Art und Weise einzudringen. Es stellt sich die Frage, wie die "Differenzbestimmung" zwischen Erfahrung und Erwartung nicht nur den Inhalt, sondern auch Grammatik und Syntax des Romans determiniert.
2023
978-3-662-67587-8
978-3-662-67588-5
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Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11368/3067919
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