Die Dostojewski-Notizen bilden das von der Lukács-Forschung1 lange gesuchte Verbindungsglied zwischen metaphysisch-ästhetischem Frühwerk und marxistischem Spätwerk, also zwischen den Büchern Die Seele und die Formen (1911) und Theorie des Romans (1916) einerseits, die den jungen ungarischen Philosophen in der deutschsprachigen akademischen und kulturellen Welt berühmt machten, und Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) andererseits, das Lukács ins Zentrum der politisch-philosophischen Debatte der Weimarer Republik katapultierte und dessen philosophisch-kritische Kraft uns, 100 Jahre nach seiner Publikation, heute noch immer fasziniert und beschäftigt. Die Notizen entfalten in nuce eine geistesgeschichtliche Dialektik, welche auf die von Dostojewski verkündete Idee der „Seelenwirklichkeit“ und der Utopie der brüderlichen Gemeinschaft zuläuft. Nach der bolschewistischen Revolution aber wird Lukács das utopische Ideal der brüderlichen Gemeinschaft selbst als Idee einer nicht-verdinglichten Welt historisieren und die Überwindung der Verdinglichung mit einer politischen Praxis verbinden. Lukács änderte also das utopische Endziel der Notizen zu einem durch die politische Praxis erreichbaren geschichtlichen Endziel ab, es wurde „eine Wirklichkeit, die man erreichen muß“.2 Vor den Trümmern der Geschichte müsse die verklärende Kraft der poetischen Welt Dostojewskis kapitulieren, und die Ästhetik habe der Politik weichen müssen. Der Übergang Lukács’ von der ästhetisch-metaphysischen zur theoretisch-politischen Sphäre konkretisiert sich exemplarisch im Unterschied zwischen einer in den Notizen herbeigerufenen mystisch-religiösen und zum Scheitern verurteilten „Revolte“ des Einzelnen und einer in Geschichte und Klassenbewusstsein geschichtlich ersehnten proletarischen „Weltrevolution“. In diesem Aufsatz zum 100. Jubiläum von Geschichte und Klassenbewusstsein möchte ich am Beispiel der literarischen und politischen Kategorien der Revolte und der Revolution den (wesentlichen) roten Faden aufzeigen, der die Notizen mit dem unübertroffenen Meisterwerk der marxistischen Philosophie verbindet.

Revolte vs. Revolution. Von den Dostojewski-Notizen zu Geschichte und Klassenbewusstsein

Ulisse Doga'
2023-01-01

Abstract

Die Dostojewski-Notizen bilden das von der Lukács-Forschung1 lange gesuchte Verbindungsglied zwischen metaphysisch-ästhetischem Frühwerk und marxistischem Spätwerk, also zwischen den Büchern Die Seele und die Formen (1911) und Theorie des Romans (1916) einerseits, die den jungen ungarischen Philosophen in der deutschsprachigen akademischen und kulturellen Welt berühmt machten, und Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) andererseits, das Lukács ins Zentrum der politisch-philosophischen Debatte der Weimarer Republik katapultierte und dessen philosophisch-kritische Kraft uns, 100 Jahre nach seiner Publikation, heute noch immer fasziniert und beschäftigt. Die Notizen entfalten in nuce eine geistesgeschichtliche Dialektik, welche auf die von Dostojewski verkündete Idee der „Seelenwirklichkeit“ und der Utopie der brüderlichen Gemeinschaft zuläuft. Nach der bolschewistischen Revolution aber wird Lukács das utopische Ideal der brüderlichen Gemeinschaft selbst als Idee einer nicht-verdinglichten Welt historisieren und die Überwindung der Verdinglichung mit einer politischen Praxis verbinden. Lukács änderte also das utopische Endziel der Notizen zu einem durch die politische Praxis erreichbaren geschichtlichen Endziel ab, es wurde „eine Wirklichkeit, die man erreichen muß“.2 Vor den Trümmern der Geschichte müsse die verklärende Kraft der poetischen Welt Dostojewskis kapitulieren, und die Ästhetik habe der Politik weichen müssen. Der Übergang Lukács’ von der ästhetisch-metaphysischen zur theoretisch-politischen Sphäre konkretisiert sich exemplarisch im Unterschied zwischen einer in den Notizen herbeigerufenen mystisch-religiösen und zum Scheitern verurteilten „Revolte“ des Einzelnen und einer in Geschichte und Klassenbewusstsein geschichtlich ersehnten proletarischen „Weltrevolution“. In diesem Aufsatz zum 100. Jubiläum von Geschichte und Klassenbewusstsein möchte ich am Beispiel der literarischen und politischen Kategorien der Revolte und der Revolution den (wesentlichen) roten Faden aufzeigen, der die Notizen mit dem unübertroffenen Meisterwerk der marxistischen Philosophie verbindet.
2023
978-3-7489-1852-3
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